Hier ist sie endlich: Die beste Quelle für alle, die das Bedürfnis verspüren, die erste Diplomarbeit über die Geschichte des Dominobauens zu schreiben :D

Ich würde natürlich gerne weitere Fotos neben dem Text drapieren, in den meisten Fällen fehlen mir dazu aber einfach die entsprechenden Rechte.

Die Quellen, aus denen ich die Informationen habe, sind hier aufgelistet.


Die Anfänge

Die Idee, Dominosteine hintereinander aufzureihen und sie dann in einer Kettenreaktion umfallen zu lassen, ist vermutlich nicht viel jünger als Dominos selbst, und die haben schon einige Jahre auf dem Buckel.

Trotzdem entstand das Hobby "domino-toppling" ganz und gar nicht allmählich, sondern wurde eines schönen Tages vor rund 50 Jahren von einem jungen Amerikaner namens Bob Speca "begonnen".

Speca besuchte damals die Mapleton High School in Pennsylvania und führte, wie er in seinem Buch "Championship Domino Toppling" schreibt, ein absolut durchschnittliches Teenagerleben - das Einzige, was er mit Dominos verband, sei der politische Begriff der "Dominotheorie" gewesen. Das änderte sich, als sein Mathelehrer Speca und seinen Kommilitonen den mathematischen Induktionsbeweis erklärte, indem er die Methode ebenfalls mit einer Dominoreihe vergleich, die, wenn sie unendlich wäre, nie aufhören würde zu fallen. Aus irgendeinem Grund weckte das spontan Specas Interesse, und noch am selben Nachmittag kaufte er sich 112 Steine, reihte sie auf dem Tisch auf, warf sie um und war völlig fasziniert.

Das Ganze ereignete sich 19721, als Speca 15 Jahre alt war2 (geboren wurde er am 9. März 19573.)

Also machte er einfach weiter. Fast täglich wuchs seine Dominosammlung, bald wich er auf den Keller aus (auch wenn dort eine Tischtennisplatte stand, die auch benutzt wurde...) und begann erste Muster zu bauen statt nur Linien. Zu seinen ersten größeren Bahnen lud er seine Freunde als Zuschauer ein; die waren ähnlich begeistert, und bald landete Speca in der örtlichen Zeitung.

Ihm war dabei gar nicht klar, dass er weltweit der Erste mit diesem Hobby war: Als ihn ein Zuschauer bei einer seiner Bahnen fragte, ob das wohl die längste Dominokette der Welt sein könnte, schlug er im Guinnessbuch nach und war mehr als überrascht, dass es einen solchen Rekord gar nicht gab.

Also stellte er einen auf. Am 1. Dezember 1974 warf er 5000 Steine um und bekam von Guinness die offizielle Anerkennung, den ersten Rekord in dieser Disziplin aufgestellt zu haben. Das teilte Speca mir auf Nachfrage mit4; in seinem Buch ist es so dargestellt, dass ein späteres Projekt mit 11 111 Steinen der erste Rekord gewesen wäre, was logischerweise von recordholders.org übernommen wurde, da es sonst keine Quellen gibt. Diese 11 111 Steine datiert Speca heute auf eine Ausgabe der Robert Frost Show im Oktober 1975; im Buch liege wohl ein Tippfehler vor5. Weil der nächste Rekord einer anderen Gruppe aber schon im Juni 1975 stattfand, dürften die 11 111 Steine wohl auf Anfang 1975 zu datieren sein.

Kurz darauf wurde für Speca dann ein Kindheitstraum wahr: Er durfte bei der Tonight Show auftreten (er hatte selbst die Produzenten angeschrieben und wurde daraufhin eingeladen), damals eine der beliebtesten Sendungen in den USA, moderiert von der wandelnden Legende Johnny Carson. Speca war ein großer Fan Carsons und baute dessen Namen dann auch in die 7000 Steine ein, die er für die Sendung aufstellte. Das Ganze fand am 20. Mai 1975 statt6 und es gibt tatsächlich ein Video:

Bereits vorher (15. Dezember 1974) war Speca in Al Albert's Showcase zu sehen gewesen (Quelle), davon kenne ich aber kein Video.

Unter den Millionen Zuschauern der Tonight Show waren natürlich einige, die das Ganze selbst mal ausprobieren wollten, und so war es kein Wunder, dass nicht viel später Specas Weltrekord schon wieder Geschichte war. Wie schon erwähnt, schnappten ihm die neuen Rekordhalter, sechs Studenten aus Seattle, die 13 382 Steine umwarfen, damit ironischerweise sogar noch den Platz im nächsten Guinnessbuch weg, den er eigentlich angestrebt hatte.

1979: Michael Cairney löst vor seinem Weltrekord eine letzte Sperre. Ⓒ Dennis E. Powell (http://www.flickr.com/photos/depscribe/collections/), verwendet mit freundlicher Genehmigung.
1979: Michael Cairney löst vor seinem Weltrekord eine letzte Sperre. Ⓒ Dennis E. Powell (http://www.flickr.com/photos/depscribe/collections/), verwendet mit freundlicher Genehmigung.

Damit hatte ein Rennen um den Weltrekord begonnen, und die National Hemophilia Foundation kam ins Spiel. Die gemeinnützige Organisation, die Patienten der Bluterkrankheit unterstützte, erkannte als Erstes, dass Dominoevents hervorragende Wohltätigkeitsveranstaltungen sein können: Indem man Freiwillige jeweils einen Dominostein "sponsoren" lässt, ähnlich wie bei Langstreckenläufen für einen guten Zweck pro gelaufenen Kilometer ein bestimmter Betrag gespendet wird, können beachtliche Summen zusammenkommen. Und ein Dominoweltrekord lockt natürlich auch viele Zuschauer und mediale Aufmerksamkeit an.

Aus dieser Idee, für die insbesondere der damalige Vizepräsident der Organisation, Tom Harrington, verantwortlich zeichnete, entstand eine Kooperation mit Bob Speca und anderen Dominobauern. Der Großteil der Weltrekorde bis 1985 kamen der National Hemophilia Foundation zugute7. Das Ganze hatte offenbar auch einen einigermaßen festen Rahmen mit einem großen Event pro Jahr8 unter dem Namen "World Domino Spectacular" (siehe T-Shirt auf dem Foto) - man könnte es also sogar als Vorläufer des Domino Days sehen. Innerhalb eines Jahrzehnts nach Specas ursprünglicher Bestmarke wurde der Rekord noch zwölfmal überboten. Pro Event kamen dabei bis zu 100 000 Dollar für den guten Zweck zusammen9.

Nur durch die Unterstützung eines solchen Sponsors dürfte es für Privatpersonen wie Speca, der nach wie vor keinen Hauptberuf hatte, sondern jahrelang von den mehr oder weniger regelmäßigen Gagen aus Workshops, Fernsehauftritten usw. lebte10, überhaupt möglich gewesen sein, Weltrekorde zu organisieren, für die ja zum Beispiel für mehrere Tage eine Halle gemietet werden musste.

Speca holte sich den Rekord mehrere Male zurück; seine persönliche Bestmarke liegt bis heute bei genau 111 111 Steinen, aufgestellt im November 1981 in Denver11.

Der Weltrekord hatte da die 200 000 längst geknackt, und 1984 wurde dann Klaus Friedrich aus Tübingen mit 281 581 umgeworfenen Steinen nicht nur der erste Rekordhalter aus Deutschland, sondern auch der letzte, der als Einzelperson den Weltrekord hielt. 15 Monate später war er ihn wieder los - und ein weiteres Jahr später begann der "Triumphzug" von Robin Paul Weijers.

Als Dominobauer "der ersten Stunde" sollten neben den bereits Erwähnten auch noch die beiden Schulfreunde John Wickham und Erez Klein genannt werden, die zweimal den Rekord hielten und auch noch größere Pläne hatten, denen aber der Domino Day zuvorkam; außerdem Scott Suko und Dan Beckerleg, die durch Cairneys Rekord zum Dominobauen kamen, selbst aber nie den Weltrekord hielten. Suko hat im Jahr 2000 einen sagenhaft retrogetränkten "Lehrfilm" übers Dominobauen gedreht (darin wird unter anderem auch ein Werbespot für die National Hemophilia Foundation von 1982 gezeigt).

Von fast allen dieser alten Weltrekord gibt es zumindest Fotos - detaillierte Infos zu den einzelnen Rekorden liste ich hier auf. Von einigen wenigen der Rekorde sind bisher kurze Videos im Internet aufgetaucht, unter anderem diese tollen (und farbigen!) Bilder von Specas letztem Rekord mit 100 000 Steinen:

Das Kapitel Domino Day

Was dann ab 1986 passierte, wurde ursprünglich von der holländischen Fluglinie KLM ins Rollen gebracht.

Um Flüge nach Holland für Japaner attraktiver zu machen, wollten sie einen Zusammenschnitt von Dominoweltrekorden auf den Flügen zeigen12. (Schon eine merkwürdige Geschäftsidee... aber anscheinend hatten sie herausgefunden, dass es in Japan schon so etwas wie einen Dominoboom gab.) An den Universitäten Delft, Enschede und Utrecht fanden sich insgesamt 45 Studenten, die sich bereit erklärten, ein solches Video zu produzieren und dabei gleich noch einen eigenen Weltrekordversuch beizusteuern.

Lisse, Südholland, 27. Dezember 1986: Der erste Weltrekord von Weijers und Co. Foto von Paul Vreeker / ANP Foundation, unter Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht
Lisse, Südholland, 27. Dezember 1986: Der erste Weltrekord von Weijers und Co. Foto von Paul Vreeker / ANP Foundation, unter Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht

Einer der Teilnehmer war der 21jährige Robin Paul Weijers. Als der Student der Elektrotechnik mit Domino in Kontakt geriet, war das sozusagen Liebe auf den ersten Blick.

Auch wenn das Event, das die Studenten schließlich auf die Beine stellten, absolut nicht nach Plan lief (Weijers findet es im Nachhinein "eher beschämend"13), hatten sie den Weltrekord doch deutlich gebrochen, und Robin Weijers hatte das Dominofieber gepackt - mit gravierenden Folgen. Zwei Jahre später gab es eine Neuauflage, und dort war Weijers bereits der Hauptorganisator (1986 war er noch ein ganz normaler Teilnehmer gewesen; einen Organisator des Events habe ich nicht ausfindig machen können, Sprecher war aber offenbar ein gewisser Bart Bijsterveld14).

Die TV-Übertragung von 1988 kann hier in nahezu voller Länge (leicht geschnitten) angeschaut werden.

Es folgten zehn Jahre Pause; man konzentrierte sich jetzt auf Engagements für Werbespots und Ähnliches, denn mittlerweile war aus der Studentengruppe schon hochoffiziell die Firma Weijers Domino Productions entstanden, also dieselbe Firma, die später als Organisator des Domino Days weltbekannt wurde. Dass sie schon 1989 mit damals 16 Mitarbeitern gegründet wurde15 - von Robin Weijers natürlich - und in den 80ern und 90ern auch schon sehr aktiv war, ist kaum bekannt. Die Idee neuer Weltrekordversuche spielt erst mal gar keine Rolle, womöglich fehlten aber auch einfach die Möglichkeiten dazu.

Dafür war man in Japan sehr fleißig. Seit den 80ern boomte Domino dort, am laufenden Band fanden Events mit mehreren zehntausend Steinen statt, vor allem an Universitäten. Schließlich entstand ein Event namens TBS Domino Challenge. TBS ist ein japanischer Fernsehsender, der diese Rekorde offenbar veranstalte. Von 1985 bis 2001 wurden in diesem Rahmen mehr als ein Dutzend Events mit jeweils mehr als einer halben Million Steinen veranstaltet, die Aufbauer waren dabei größtenteils japanische Studenten, später nahmen auch koreanische, chinesische / taiwanesische und thailändische Kollegen teil, es wurde fast ein asienübergreifendes Event. Das Ganze blieb praktisch "unbemerkt" von den europäischen Medien. Hier gibt es Fotos von einem der Projekte aus dem Jahr 1995.

Bei TBS 1996 fielen 1 888 927 Dominos und damit mehr als beim Domino Day 1998, das Event wurde allerdings offenbar nicht bei Guinness angemeldet. Ich gehe davon aus, dass Robin Weijers 1998 gar nicht wusste, dass er eigentlich gar keinen Weltrekord aufstellte.

Dreimal hielt man aber auch den offiziellen Weltrekord. 1985 fielen in Yokohama zum ersten Mal weltweit eine halbe Million Steine (hier ein Video); 1999 und 2000 holte man sich (in China, aber immer noch unter dem Namen "TBS Domino Challenge") den Rekord zweimal aus Holland zurück. Erstaunlicherweise zeigte RTL im Vorbericht zum Domino Day 1999 sogar Filmausschnitte aus den älteren Events und erwähnt dabei auch zwei Weltrekordzahlen (710 899 und 1 020 734), die genau mit den wenigen Quellen übereinstimmen, die ich für diese Events ansonsten habe - seltsam, dass RTL hier also selbst erwähnt, dass in Japan schon 1986 die Million geknackt wurde, während später immer behauptete wurde, Robin Weijers sei 1988 damit der erste gewesen.

Die Events in den 90ern waren sehr kreativ, die beiden Weltrekorde 2000 und 2001 dagegen von absurd riesigen, völlig langweiligen und für die Bauer auch aufgrund des äußerst knappen Zeitplans sicher extrem strapaziösen Feldern geprägt.

 

Die Events von TBS im einzelnen:

Datum umgeworfene Steine        Ort
6. April 1985
518 242
Yokohama (J)
Oktober 1985 710 899 Yokohama (J)
April 1986 1 020 734 Yokohama (J)
31. Juli 1990 1 271 857 Chiba (J)
19. März 1991 1 467 125 Tokio (J)
1991 1 458 520 Aizumisato (J)
1. Mai 1992 1 640 801 Ilan (TWN)
29. Juli 1993 1 694 556 Nagano (J)
28. März 1995 1 824 864 Nohezi (J)
10. September 1995       1 802 132 Fukujiwa (J)
4. April 1996 1 888 927 Tanagura (J)
31. Dezember 1999 2 751 518 Peking (CN)
3. Dezember 2000 3 407 535 Peking (CN)

(Quelle für diese Zahlen ist insbesondere diese Seite - nur dort werden alle diese Events aufgeführt. Einige andere Quellen, die nur manche der Events aufführen, stimmen bei diesen Daten überein. Von dem Event am 10. 9. 1995 besitze ich eine private DVD-Aufzeichnung, die einen Ideenreichtum zeigt, der mit dem Domino Day mindestens mithalten kann. Die Projekte sind teilweise höchst bizarr, aber auch sehr kreativ.)

Nummer 1 von 38,5 Millionen - Loek Hermans, Gouverneur von Friesland, setzt am 14. 7. 1998 den ersten Stein des ersten Domino Days. Foto von KIPPA, unter Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht
Nummer 1 von 38,5 Millionen - Loek Hermans, Gouverneur von Friesland, setzt am 14. 7. 1998 den ersten Stein des ersten Domino Days. Foto von KIPPA, unter Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht

1998 fiel jedenfalls der Startschuss für die Reihe der tatsächlichen "Domino Days" (die Events von 1986 und 1988 werden dort offiziell nicht dazugezählt). Der Fernsehproduzent John de Mol hatte Interesse an der Idee gefunden, mit seiner Firma Endemol Dominoweltrekorde wie den von 1988 zu einer Fernsehshow zu machen16.
Es kann nicht zu hoch eingeschätzt werden, was das für das Hobby im Nachhinein bedeutete. Ohne KLM, Robin Weijers und schließlich Endemol hätte Domino immer noch etwa so viele Fans wie die Handballnationalmannschaft der Färöerinseln.

Robin Weijers und Aufbauer beim Domino Day 2001. Foto von KIPPA, s. o.
Robin Weijers und Aufbauer beim Domino Day 2001. Foto von KIPPA, s. o.

Der Domino Day hat eine Zuschauerzahl von bis zu 85 Millionen erreicht, verteilt auf fast ganz Europa; in Deutschland betrug der Spitzenwert (erreicht 1999) sagenhafte 14 Millionen Zuschauer17.

Das hat nicht zuletzt den Vorteil, dass ich immer seltener erklären musste, was ich mit "Domino bauen" meinte, wenn ich mich jemandem vorstellte und erzählte, was ich in meiner Freizeit machte.

Viele Zuschauer nahmen aber, verständlicherweise, auch an, RTL hätte den Domino Day und Domino im Allgemeinem "erfunden", so wie Fernsehsender eben regelmäßig neue Seifenopern, Reality- und Quizshows ausbrüten. RTL übertrug das Event und Endemol war in die Organisation eingebunden; die Idee an sich stammt aber, siehe oben, nicht von RTL.

2009 fand die letzte Ausgabe des Domino Days statt; offiziell wurde die Show nie abgesetzt, RTL verkündete Jahr für Jahr, dass es diesmal aus finanziellen Gründen leider nicht klappe. De facto ist der Domino Day aber Geschichte. Robin Weijers trat 2013 noch einmal bei einem spezielleren Weltrekordversuch bei RTL in Erscheinung. 2020 sollte eine Neuauflage stattfinden, die dann allerdings durch die Unabwägbarkeiten der Pandemie wieder abgesagt werden musste.

Die heutige Community

So oder so hat der Domino Day Tausende seiner Zuschauer, vor allem Kinder, angeregt, das Ganze mal selbst zu versuchen, die meisten davon natürlich in Deutschland und Holland, wo die Zuschauerzahlen am höchsten waren.

Bei den meisten bleibt es natürlich dabei, dass man eine Weile lang Spaß daran hat. Aber wie bei jeder Nischenbeschäftigung gibt es auch bei diesem Hobby eine kleine, aber feine Gruppe an "Freaks", die das Ganze als Hobby beibehalten. Beim Domino sind das letztendlich erstaunlich wenige, obwohl das Hobby so bekannt ist. Wie viele, ist schwer zu sagen. Die meisten sind in Teams zusammengeschlossen, und diese Handvoll Teams in Deutschland und Umgebung (siehe unten) haben zusammen so ungefähr 70 Mitglieder. Ein paar hundert weitere dürften das Ganze privat als Hobby verfolgen.

Als Kind war mein Hobby für mich ganz selbstverständlich etwas, was ich alleine betrieben habe - auch wenn ab und zu mal Freunde dabei waren, aber Kontakt mit anderen Freaks gab es keinen, wie auch. Dann kam das Internet - genauer gesagt YouTube. Ab 2006 oder 2007 begannen sich dort Dominovideos zu finden, und langsam bildete sich eine kleine, aber feine Gemeinschaft an Freaks.

Angeführt wurde das Ganze von FlippyCat. Dieser Kanadier, der online nur unter diesem Nicknamen auftritt, war der erste Dominobauer, der seine Projekte auf YouTube veröffentlich hat, und zunächst mit Abstand der professionellste und kreativste. Seine Videos sind seitdem mehr als hundert Millionen (!) Mal angeklickt worden, er machte das Hobby so noch einmal deutlich bekannter.

Sein Markenzeichen war bis zu dessen Tod 2010 sein Kater (namens Flippy, wie man sich denken kann), der in den meisten Videos zu sehen war - er war so zahm, dass sein Besitzer ihn neben den Dominos herspazieren ließ und nur einmal einen Unfall in Kauf nehmen musste. Manchmal stieß Flippy sogar (als er dann sollte) den ersten Stein an.

Vor allem durch FlippyCat kam jedenfalls ein kleiner Dominoboom auf YouTube zustande, zeitweise waren es 300 oder 400 Kollegen, die sich auf diese Weise austauschten und ihre Projekte präsentierten.

Ich habe vor einiger Zeit einen Zusammenschnitt angefertigt, der die spektakulärsten Szenen aus den Tausenden von Dominovideos zeigt, die diese Fangemeinde hervorgebracht hat. Insgesamt sind Videos von 78 Kanälen enthalten (all haben mir ihr OK gegeben, dass ich ihre Videos verwende).

Großen Anteil daran, dass diese Community so entstehen konnte, hat neben Flippy witzigerweise jemand, der mit ihr eigentlich gar nichts zu tun hat und den keiner von uns persönlich kennt. Christian Lamping aus Niedersachsen hat aber offenbar selbst einmal Domino gebaut oder tut das vielleicht immer noch - jedenfalls hatte er irgendwann angeblich die Schnapsidee, den Einzweltrekord brechen zu wollen. Dazu brauchte er 300 000 Dominos - und da praktischerweise seine Eltern die Firma Lamping Werkzeug- und Maschinenbau besaßen, war das, was für die allermeisten unerschwinglich gewesen wäre, machbar. Ironischerweise scheiterte der Rekordversuch den Gerüchten nach aus anderen finanziellen Gründen: Um zu kontrollieren, dass tatsächlich nur eine Person alle Steine aufbaut, muss pausenlos ein Notar anwesend sein - bei zwei Monaten Bauzeit war der für die Lampings nicht zu bezahlen. Also wurden die Steine verkauft - und als sich das wiederum durchaus rentierte, machte man daraus ein Geschäftsmodell.

Soweit soll Christian das selbst zu Protokoll gegeben haben, eine unmittelbare Bestätigung habe ich aber leider nicht.

Wie dem auch sei: Als er im Februar 200418 begann, Dominos für 4 Cent pro Stück zu verkaufen, hatte er eine absolute Marktlücke entdeckt - sein Ebay-Profil war deutschlandweit die einzige Quelle für gute Dominosteine. Der Plastikschrott von Domino Express oder teure Holzklötzchen von diversen Marken sind einfach kein Vergleich gegenüber den "Lampings", wie sie mittlerweile genannt werden - diese kommen den Steinen vom Domino Day in Qualität und Beschaffenheit sehr nahe.

Zwischen 2004 und 2010 sind bei Ebay sage und schreibe 4500 Bewertungen (fast alle positiv) für ihn eingegangen, und es gibt keine Hinweise, dass er mal andere Artikel im Angebot hatte als Dominos. Da eine Bestellung mindestens 500 Steine umfasst, summieren sich alleine diese Käufe auf mindestens 2,25 Millionen Dominos - und das sind erstens nur diejenigen, für die Bewertungen abgegeben wurden; zweitens wurden natürlich sehr häufig auch deutlich mehr als 500 Steine gekauft; und drittens sprach es sich bald herum, dass man auch einfach per E-Mail bestellen konnte, statt das Ganze über Ebay abzuwickeln, sodass es auch dort eine hohe "Dunkelziffer" gibt. Dadurch kann man erst recht mit Sicherheit davon ausgehen, dass mittlerweile mehrere Millionen an "Lampings" verkauft worden sind. Das mag unmöglich erscheinen, wenn die Domino-Community im Internet doch nur, wie gesagt, wenige hundert Leute umfasst. Aber Domino ist in Deutschland durchaus ein weit verbreiteter "Breitensport", sodass die paar hundert eben nur die richtigen Freaks sind, es darüber hinaus aber Tausende gibt, die das Ganze als Gelegenheitshobby mal anfangen oder ihren Kindern zu Weihnachten Steine kaufen. So betrachtet, ist diese Zahl auch realistisch - mal abgesehen davon, dass zum Beispiel alle 450 000 Steine, die beim deutschen Dominorekord, der 2010 in Buchloe aufgestellt wurde (siehe unten), von Lamping stammten.

Schon vor Jahren hat im Übrigen Christians Mutter19 Maria Lamping den Verkauf übernommen; seit einiger Zeit werden die Steine auch ins Ausland und nach Übersee geliefert, was die Zahl der Kunden noch einmal deutlich vergrößert hat. Mittlerweile gibt es auch weitere Marken, darunter Bulk Dominoes und H5 Domino Creations.

Wer jetzt übrigens selbst Interesse bekommen und bisher keine Steine hat, kann hier direkt eine E-Mail an Maria Lamping schreiben und seine Bestellung angeben (in Hunderterpacks, also z. B. 500 weiß, 300 schwarz; bei großen Bestellungen, also ab einigen tausend Steinen, gibt es deutlichen Mengenrabatt; hier gibt es Beispielfotos von den einzelnen Farben).

YouTube wurde schnell das Kontaktforum für Dominobauer. Es ergab sich einfach so, da Videos natürlich die Form sind, in der man dieses Hobby präsentiert, und YouTube für Videos wiederum bekanntlich der meilenweite Marktführer ist.

Diese kleine Dominogemeinde ist mittlerweile, eine paar Jahr später, allerdings wieder merklich zusammengeschrumpft. Dafür ist etwas anderes daraus hervorgegangen: Statt einzelne, im heimischen Wohnzimmer gebaute Projekte hochzuladen, haben sich viele der User im "real life" zu Teams zusammengeschlossen, die sich treffen, um gemeinsam ein großes Projekt auf die Beine zu stellen.

Das Team von IDT bei seinem letzten Event...
Das Team von IDT bei seinem letzten Event...

Angefangen hat das Ganze mit IDT - "Individual Domino Toppling". Ursprünglich war das der Name, den der holländische Kollege Stefan Schöppers seinen Projekten gab - den ersten Falldown unter diesem Namen gab es schon 2002, also lange vor YouTube. Schließlich wurde daraus dann aber ein Team, dessen Event im Jahr 2007 den ersten Zusammenschluss von Dominobauern darstellte, die sich über YouTube kennengelernt hatten. Ein Jahr später hielt die Gruppe ihr größtes Event (55 555 Steine) in Berlin ab, außerdem stellte man noch zwei Weltrekorde auf (Kettenreaktion aus DVD-Hüllen, größte Dominosteine der Welt); dann stellte die Gruppe aber ihre Aktivität ein.

...und das Cologne Domino Team
...und das Cologne Domino Team

Die Lücke füllte daraufhin das Cologne Domino Team (CDT), dessen Mitglieder ebenfalls über YouTube Kontakt miteinander aufgenommen haben. Die ursprünglichen Gründer, sechs Freunde aus Köln, haben dort die besten ihrer deutschen Kollegen angeschrieben - beim ersten Event waren das erst mal nur drei auswärtige Mitglieder, in den späteren Jahren wuchs das Team auf über 20 Mitglieder. Ich war von Anfang an jedes Mal dabei und habe deshalb auch eine Rubrik über CDT auf dieser Homepage: dorthin geht's hier.

Die Stimmung bei CDT war jedes Mal einmalig. Der Aufbau eines so großen Events dauerte bis zu zwei Wochen - das ist dann schon ein richtiges Ferienlager mit 20 Gleichgesinnten und einfach ein tolles Erlebnis.

Zum bisher letzten Mal fand 2013 ein Event in Köln statt. Unterdessen haben sich aber mehrere Teams gebildet, die ebenso große - und größere - Projekte aufgezogen haben. In Deutschland gibt es Sinners Domino Entertainment, in Österreich Austrian Domino Art - zu denen ich mittlerweile anstelle von gehöre -, und 2015 fanden sich dann endlich auch in den USA die Domino- und Rube-Goldberg-Experten zusammen und stellten gleich eines der spektakulärsten Events auf die Beine.

 

Einige der Teamevents sind zu viralen Internethits geworden und mehrere Millionen Mal angeschaut worden - was übrigens über Werbeeinnahmen einen ordentlichen Teil der Finanzierung ermöglicht.

Daneben sorgte diese Aufmerksamkeit auch dafür, dass immer mehr Firmen diese Teams, die aus Hobbybauern hervorgegangen sind, für Werbespots, Veranstaltungen, Workshops usw. engagieren, sodass CDT, Sinner und Austrian Domino Art mittlerweile professionelle Unternehmen oder auf dem Weg dahin sind.

Das gilt auch für einige Organisationen in Asian wie Domino Land und die Taiwanese Domino Association. Von diesen bekommt man hierzulande nichts mit, aber Domino ist in Asien ungebrochen beliebt.

 

 

Rube Goldbergs / machine building

In den letzten Jahren ist innerhalb der Domino-Szene auf YouTube ein sozusagen verwandtes Hobby immer mehr aufgekommen: sogenannte Rube Goldbergs. Der Begriff steht dafür, eine simple Handlung (einen Lichtschalter anknipsen z. B.) von einer möglichst komplexen, umständlichen Maschine ausführen zu lassen. Benannt sind sie nach einem Cartoonzeichner, der mit Vorliebe solche Maschinen zeichnete. Während das Ganze ursprünglich natürlich nur als Blödelei gedacht war, kann es natürlich auch Spaß machen, solche Maschinen tatsächlich zu bauen, und daraus entstand das Hobby, bei dem es nicht mehr um den ursprünglichen Witz geht, sondern darum, tatsächlich möglichst komplizierte Kettenreaktionen entstehen zu lassen. Beim Dominobauen ist eine Kettenreaktion zwar die Grundlage, aber es ist nicht das Ziel, dass diese besonders kompliziert wird. Machine builders (die eher einfach von "Maschinen" als von Rube Goldbergs sprechen, weil es oft ja gar nicht mehr um die ursprüngliche Idee von Goldberg geht) benutzen alle möglichen Alltagsgegenstände - Rampen, Röhren, Bälle, Klappmechanismen, Schnüre, Bretter, aber auch Dinge wie Ventilatoren oder Glühbirnen -, um spektakuläre Kettenreaktionen zu kreieren. Das ist ein Handwerk, wenn nicht eine Kunstform für sich, die ich nicht wenig bewundere, weil das Ganze viel kniffliger und komplexer ist als Domino zu bauen. Erst recht, wenn so eine Maschine mit Dutzenden Einzelschritten nicht erst im fünfundachtzigsten, sondern im ersten Versuch von A bis Z funktionieren soll, weil sie für eine Live-Veranstaltung gebaut wird.

Manche Dominobauer haben Interesse an dem Hobby gefunden, andere YouTuber haben als "machine builders" begonnen und interessieren sich ein bisschen auch für Domino, sodass die beiden Hobbys mittlerweile mehr oder weniger zusammengehören (Dominosteine sind auch häufig Teil der Maschinen). Das Maschinen-Hobby ist in erster Linie in den USA entstanden, während Domino ja in erster Linie in Deutschland, Holland und dem restlichen Europa stattfindet. Ich für meinen Teil bleibe bei den Dominos, obwohl ich die Maschinen faszinierend finde.

Ungekrönter König des Maschinentüftelns ist Steve Price alias Sprice, obwohl sein YouTube-Kanal "nur" vergleichsweise mäßige 10 000 Abonnenten hat. Lily Hevesh, ebenfalls aus den USA und halb Domino-, halb Maschinenbauerin, hat als bekanntester Dominokanal über 600 000 Fans, aber Steve ist die Koryphäe im Maschinenbauen und organisiert auch die Incredible Science Machine, die mit ihrem Start 2015 das erste große Dominoevent in den USA war (es war eine Mischung aus Domino- und Maschinenparcours), abgesehen von den oben erwähnten ursprünglichen Projekten von Bob Speca usw. natürlich.

Einen Eindruck von dem Spektakel, das solche über Dominos hinausgehenden Kettenreaktionen erzeugen können, gibt dieses Video, bei dem einige der maßgeblichen Cracks zusammengearbeitet haben: