Der Domino Day bei RTL lief erstmals 1998. Diese erste Ausgabe ging noch an mir vorbei, 1999 hatten meine Eltern dann den Fernseher an und traten damit eine fünfzehnjährige Obsession bei mir los.

Ich war damals sieben Jahre alt. An Weihnachten im gleichen Jahr bekam ein dann paar hundert Holzklötzchen geschenkt, wie durch die TV-Show in dem Jahr wahrscheinlich nicht so wenige Kinder. Vermutlich nahmen meine Eltern an, dass meine erkennbare Begeisterung für das Hobby ein Frage von ein paar Wochen sein würde. Stattdessen mussten sie und nicht zuletzt auch meine Schwestern in den nächsten Jahren regelmäßig tolerieren, dass man sich in den beiden größten Zimmern des Hauses regelmäßig nur höchst vorsichtig betreten durfte.

Irgendwann wurden aus den ersten paar hundert Dominos etwa 3000 und dachte, das sei realistischerweise wohl das Ende der Fahnenstange.

Ab 2002 begann meine Mutter mit zwei weiteren Familien einen eigenen "Domino Day" zu organisieren, für den wir eine leerstehende Kirche in einem Dorf bei Saarbrücken und später die Turnhalle meiner Schule für jeweils einen Tag nutzen konnten. Das waren für mich absolute Feiertage. Das größte dieser Events kam auf etwa 15 000 Dominos. Die beiden Fotos hier zeigen Abschnitte, die nicht von mir gebaut wurden.

Nun hört so ein Kindheitshobby ja in der Regel mit zwölf, dreizehn Jahren vielleicht normalerweise irgendwann langsam auf, weil dann ja andere Dinge wichtiger werden. Passierte bei mir aber irgendwie nicht. Stattdessen bestimmte es meine komplette Schulzeit und ging danach auch ins Studium hinein noch weiter.

 

Warum? Weil es kein Hobby war, sondern ein Spezialinteresse. Das ist normalerweise die Bezeichung dafür, wie Menschen mit Autismus oft ein Nischeninteresse verfolgen - nämlich mit der Funktion, sich eine eigene Welt zu schaffen, in der man sich von der verwirrenden, überfordernden sozialen Umwelt erholen kann. Und so eine eigene Welt zu haben, war für mich schon ganz schön überlebenswichtig.

(Ob ich tatsächlich ins Autismus-Spektrum fiel oder heute noch falle, ist eine andere Frage. Die gängigen Fragebögen verorten mich genau an der Grenze dazu. Ich identifiziere mich nicht mit der Diagnose, bin aber ganz sicher auch nicht weit weg davon und habe bestimmt nicht zufällig eine tatsächlich sehr eindeutig diagnostizierte Asperger-Autistin geheiratet.)

 

Die 3000 Steine waren also bei weitem nicht das Ende der Fahnenstange, spätestens, als bei einem Online-Verkäufer (Christian Lamping) endlich Dominosteine erhältlich waren, die denen vom Domino Day entsprachen.

Bald wurde mein Zimmer zu klein - was wir dazu nutzten, den Dachboden des Hauses zu entrümpeln, freizuräumen und mir als Baufläche zur Verfügung zu stellen. Das war 2006.

Es hätte auch kein besseres Symbol für die Funktion dieses Hobbys für mich geben können als so einen Dachboden. Viel mehr "eigene Welt" geht ja kaum - abgesehen davon, dass man das Ganze dann auch noch auf nachts verlegen kann. Vor allem später, während des Studiums (ich wohnte weiterhin zuhause), machte ich da oben am Wochenende oft gewollt "Nachtschichten" und schlief eher tagsüber. Wenn man während des Studentenlebens so seine Wochenenden gestaltet, sagt das schon viel darüber aus, wie sehr es einfach zu mir passte, so eine eigene Rückzugswelt zu haben. Die Nachtschichten livestreamte ich kurioserweise sogar, für ein Publikum von normalerweise so etwa fünf Leuten - was genau die richtige Publikumsgröße ist, wenn es um darum geht, so einen eigenen, kleinen Mikrokosmos zu haben.

Einige Jahre lang waren Fotos das Einzige, was von den Aufbauten im Nachhinein blieb - keine Videos. Das änderte sich 2005 durch die bahnbrechende Anschaffung einer Digitalkamera im Hause Dings.

Der nächste Schritt war dann schon zwei Jahre später mein erster YouTube-Kanal (ein anderer als heute, nämlich dieser).

Dadurch ergaben sich dann vor allem auch Kontakt zu anderen Freaks mit dem gleichen Hobby. Eine Folge davon war CDT, das "Cologne Domino Team", bei dem wir uns mit anfangs ca. zehn, später eher zwanzig Gleichgesinnten jeweils in den Sommerferien tage- bis wochenlang in einer Schule in Köln einquartierten und die Turnhalle mit einem Domino Day im Kleinformat zupflasterten. Kleinformat im Vergleich zur TV-Sendung, aber natürlich völlig andere Dimensionen als mein Dachboden: es fing 2008 mit 70 000 Dominos an und endete 2013 mit 285 000. Wir übernachteten größtenteils in Schlafsäcken in der Schule. Das Einverständnis der Schulleitung mit so einem Projekt finde ich im Nachhinein ganz schön bemerkenswert.

Für mich waren diese Projekte immer wie eine Ferienfreizeit. Nach der Ausgabe 2013 verlief sich das Ganze dann relativ still und leise.

CDT war 2008 eins der ersten solchen Teams und das erste in dieser Größenordnung, aber es entstanden schnell weitere Gruppen in Deutschland und anderen Ländern, darunter die ähnlich hochtrabend benannte Gruppe Austrian Domino Art. Über diese Gruppe erfüllte sich für mich dann noch ein Kindheitsträumchen: ein Guinness-Weltrekord - nicht für die größte Domino-Kettenreaktion natürlich, hier ist der Weltrekord des Domino Days bis heute unangetastet. Aber die mit 40 Metern längste Dominomauer ist auch nicht schlecht.

 

Einen anderen Weltrekord hatte ich mir auf dem Dachboden mal versucht zu schnappen: die größte 3D-Pyramide. Bei solchen 3D-Bauten ist es natürlich beim ersten Fehler vorbei, und entsprechend herausfordernd und nervenaufreibend sind solche Versuche. In diesem Fall scheiterte das Ganze nur knapp vor dem Ende und ohne mein Zutun: wie man im Video sieht, fiel ein Stein oben in der Pyramide von selbst um. Das lag daran, dass er an einer Seite mit Farbe bemalt war und dadurch leicht uneben war - in dem Fall wohl am Ende zu instabil. Dieses Video ging viral und führte zu einem (telefonischen) Interview im japanischen Fernsehen (Japan war schon immer eine Hochburg des Domino-Hobbys), das leider nicht mehr online zu finden ist.

 

Letztlich ging das Hobby für mich dann zu Ende - etwas, was ich mir zwischenzeitlich gar nicht hätte vorstellen können - als ich mit 22, nach Abschluss des Bachelor-Studiums, dann doch mal von zuhause auszog. In der Studentenbude fehlte der Platz, und insgesamt schlich sich das Ganze aus, auch was die Beteiligung an Gruppenprojekten anging. Mein letztes nennenswertes Projekt war noch mal sehr schön: meine Dominobauten mit Motiven zu Island nach einem Urlaub dort fand eine isländische Zeitung so nett, dass dort ein Artikel darüber erschien.

 

Am Domino Day habe ich letztlich nie teilgenommen - gerade als ich 18 wurde, was natürlich Voraussetzung war, wurde die Show eingestellt. Aber ich hatte auch schon das Gefühl, dass das vielleicht gar nicht so richtig gepasst hätte - bei so einem Megaevent verblasst ja der ganze Rest des Hobbys, das für mich eben die Bedeutung eines Rückzugsortes hatte.