Scrabble ist eines dieser Spiele, die bei Könnern komplett anders aussehen als bei Neulingen. Bei der optimalen Spielstrategie geht es um Dinge, die man auf den ersten Blick nicht beachtet - vor allem, weil Scrabble an der Oberfläche wie ein Sprachspiel aussieht und das natürlich auch ist. Aber das ist sozusagen nur Fassade. Man würde ja auch nicht Origami als "Biologie" einordnen, weil man dabei Tiere formt. Eigentlich ist Scrabble ein Mathespiel. Das sieht man schon daran, dass die besten Spieler international und in Deutschland typischerweise nicht Linguistinnen oder so sind, sondern Leute mit Berufen, die systematisches Denken erfordern - Statistiker in meinem Fall, Juristen, Mathematiker, Informatikerinnen und so weiter in vielen anderen Fällen.

Natürlich braucht man den entsprechenden Wortschatz, den man aber, wenn man sich verbessern will, einfach dazulernen kann wie Vokabeln. Aber vor allem sind die Wörter letztendlich nicht als Wörter entscheidend, sondern als Bausteine des Spiels, die auch beliebige andere Symbole sein könnten. Punkte bekommt man ja nicht für Metaphern oder Wortspiele. Die optimale Strategie hat stattdessen damit zu tun, die Wahrscheinlichkeiten, wie sich das Spiel entwickelt, möglichst gut zu verstehen. Wie das geht, möchte ich auf dieser Seite zusammenfassen. Ich erkläre es auch auf YouTube in verschiedenen Videos, unter anderem in dieser Einführung:

Eigenschaften des Spiels

Über die konkreten Strategien hinaus, zu denen ich im nächsten Abschnitt komme, finde ich ein paar sehr allgemeingültige Dinge wichtig, die man mit der Zeit über das Spiel lernt. Diese sind Folgen der Eigenschaften des Spiels an sich: es ist ein Spiel mit Glückskomponente durch die zufällig gezogenen Buchstaben, außerdem eines mit unvollständiger Information (man kennt die gegnerischen Buchstaben nicht und kann nur Vermutungen darüber anstellen) und eines mit einem riesigen Entscheidungsbaum - sprich, es gibt in den meisten Situationen Hunderte, in extremen Fällen Tausende mögliche Züge (auch wenn ein großer Teil davon oft außer Acht gelassen werden kann). Miteinander kombiniert führt das zu einem Spiel, bei dem man nicht einfach logisch vorausberechnen kann, welcher Zug auf welchen folgt, sondern in dem sich in jeder Situation unzählige weitere Spielverläufe ergeben können. Eine - vielleicht überraschende - Folge davon ist, dass es bisher keine Computerprogramme gibt, die Scrabble annähernd optimal spielen können, auch wenn einige natürlich ein sehr hohes Niveau erreicht haben.

  • Es ist Zeitverschwendung, sich über Buchstabenpech zu ärgern. Scrabble kann einem sehr effektiv beibringen, sich nur um die Dinge zu kümmern, die man selbst beeinflussen kann.
  • Die probabilistische (statt deterministische - man hat es mit Wahrscheinlichkeiten statt mit logisch zwingenden Zugabfolgen zu tun) Natur des Spiels führt dazu, dass ein Zug nicht direkt danach beurteilt werden kann, zu welchem Ergebnis er führte. Man muss den Prozess bewerten, nicht das Ergebnis; also nicht fragen "habe ich in diesem Fall gewonnen?", sondern eher um "wenn ich immer so spielen würde, wie oft würde ich dann gewinnen?"
  • Anders gesagt kann man also super spielen und verlieren - oder schwach spielen und gewinnen. Wenn man das in irgendeiner Weise unfair findet, sollte man sich darüber klar werden, dass das sonstige Leben erst recht so funktioniert. Vielleicht noch schwieriger ist, dass man (auch hier: wie im echten Leben) nie so ganz sicher weiß, was in einem bestimmten Spiel entscheidend war - war es jetzt Glück oder Pech oder Können oder Unvermögen? Das Dilemma erinnert ein bisschen an die nicht pauschal beantwortbare Frage, "wie wichtig" die Gene und wie wichtig die Umwelt eines Menschen für seinen Lebenslauf sind.
  • Die Kombination aus zigtausenden zulässigen Wörtern und dem zufälligen Verlauf des Spiels hat die reizvolle Folge, dass meistens nichts weiter Ungewöhnliches passiert - ein guter Teil des Spiels besteht aus eher unspektakulären Wörtern und relativ normaler Strategie - aber hin und wieder dann die Zufallskomponente einen Ausreißer produziert und man plötzlich ein eins-zu-einer-Millionen-Wort legen kann wie etwa AYURWEDA, was mir in einem Turnierspiel passierte. Da man nicht weiß, wann das passiert, muss man in (fast) jedem Zug auf solche "schwarzen Schwäne" achten. Das gilt nicht nur für Wörter, sondern auch für ungewöhnliche strategische Situationen.
  • Auch aus diesem genannten Grund gilt unbedingt die Weisheit aus dem Schach: wenn man einen guten Zug gefunden hat, sucht man einen noch besseren. Es kommt oft genug vor, dass ein Zug auf den ersten Blick wie eine klare Sache aussieht, aber tatsächlich nicht die beste Möglichkeit ist. Ein häufiger Fehler ist zum Beispiel, eine grottig wirkende Buchstabenkombination ohne großes Nachdenken zu tauschen, obwohl es eine Möglichkeit gibt, einige der Buchstaben punktreich zu verwerten.
  • Die riesige Anzahl an Möglichkeiten bedeutet auch, dass es extrem schwer ist, regelmäßig die beste dieser Möglichkeiten auszumachen und Scrabble optimal zu spielen. Gleichzeitig ahnt man meist nicht, was man alles übersehen hat. Geht man Spiele im Nachhinein mit Scrabble-Software durch, fällt man erst mal aus allen Wolken. Es gibt fast immer mehr Möglichkeiten, als man gedacht hätte, und das nicht nur wegen unbekannter Wörter, sondern auch strategisch. Deshalb denke ich bei dem Satz "da war einfach nichts zu machen", den man bei Turnieren oft nach Niederlagen hört, immer: Das stimmt so fast nie...
  • Für die Spielstragie folgt aus diesen Eigenschaften des Spiels unter anderem, dass Flexibilität ein entscheidender Punkt ist. Man kann nicht vorausbestimmen, wie es genau weitergehen wird, und zielt deshalb am besten darauf ab, dass möglichst viele der möglichen Szenarien günstig für einen sind - statt dass man alles auf eine Karte setzt und zum Beispiel darauf hofft, einen ganz bestimmten Buchstaben nachzuziehen. Faustregel: man sollte nicht das Gefühl haben, dass man im nächsten Zug auf Glück angewiesen ist. Konkret bedeutet das zum Beispiel, dass die beiden Joker im Spiel sehr viel wert sind, weil sie natürlich die flexibelsten "Buchstaben" überhaupt sind. Auch ist es oft die bessere Strategie, konstant mäßig viele Punkte zu machen, als zu versuchen, einen großen Wurf für 50-100 Punkte zu landen.
  • Die Komplexität und Zufälligkeit des Spiels führt auch dazu, dass alle strategischen Regeln kontextabhängig sind - es kommt immer auf die konkrete Situation an. Oder wie ein Schach-Großmeister es einmal formuliert haben soll: erst lernt man die Regeln - dann lernt man, wann man sie brechen sollte.
  • Zu Beginn des Spiels ist es noch sehr offen, in welche Richtung sich das Spiel entwickelt - die Wahrscheinlichkeit hat sozusagen mehr Luft in beide Richtungen (von den 50% zu Beginn des Spiels* nach oben oder nach unten); im späteren Spielverlauf ist das Spiel meist schon stärker entschieden. Und deshalb sind die ersten Züge die wichtigsten - hier Fehler zu machen, beeinflusst das Spiel öfter am stärksten. Es lohnt sich also, über die ersten paar Züge relativ gründlich nachzudenken.
  • Da man die gegnerische Bank nicht kennt, ist es hier noch unsicherer, mit welchen Szenarien man rechnen muss. Dadurch kann man letzten Endes die gegnerischen Punktzahlen deutlich weniger beeinflussen als die eigenen. Defensive ist nicht unwichtig, aber es bringt insgesamt mehr, sich vor allem auf das eigene Spiel zu konzentrieren und nicht zu viele Punkte dafür zu opfern, die Pläne des Gegenübers zu durchkreuzen - dafür sind diese meist zu schwer vorherzusagen. Ob man selbst 400 oder 300 Punkte macht, ist also stärker beeinflussbar, als ob man 400 oder 300 Punkte kassiert. Aber auch hier gilt: es kommt auf die Situation an - manchmal ist es absolut zentral, auf die gegnerischen Möglichkeiten zu reagieren.

*genauer gesagt hat man schon einen Vorteil, wenn man das Spiel anfangen darf - mit etwa 55% zu 45% Gewinnchance

Strategien

Damit zu konkreten Strategien. Das Ziel beim Scrabble ist ja logischerweise, am Ende des Spiels mehr Punkte zu haben. Der Clou zur Strategie liegt in der Idee, dass dieses Ziel - "am Ende des Spiels möglichst wahrscheinlich gewinnen" nicht gleichgesetzt werden kann mit "in jedem Zug möglichst viele Punkte machen". Stattdessen kommt man dahin man außerdem noch auf verschiedene andere Weise:

  • Indem man so spielt, dass man in den nächsten Zügen ebenfalls gute Chancen auf viele Punkte hat
  • Indem man die gegnerische Punktzahl möglichst gering hält, soweit man darauf Einfluss hat
  • Indem man Einfluss darauf nimmt, welche Gewinnmöglichkeiten das Spielfeld noch bietet und welche nicht (also z. B., ob noch Platz für lange Wörter frei ist oder nicht)

Die Punktzahl des aktuellen Zuges ist natürlich jeweils ein wichtiger Faktor - meistens ist es besser, 50 Punkte zu machen als 20. Aber es ist eben nur ein Faktor von letztendlich sehr, sehr vielen. Eine vollständige Auflistung würde hier den Rahmen sprengen. Deshalb sei vor allem auf meine YouTube-Videos verweisen, in denen ich jeweils im Detail darauf eingehe. Weitere gute, wenn auch englischsprachige, Quellen sind das Scrabble Player's Handbook sowie die Homepage des US-amerikanischen Spielers Kenji Matsumoto.

Hier deshalb nur eine nicht genauer erläuterte Liste an Anregungen, was alles eine Rolle spielen kann.

  • Den punktreichsten Zug zu finden ist natürlich nicht direkt eine Strategiefrage - man findet ihn oder man findet ihn nicht - aber man kann nachhelfen: gezielt nach Stellen auf dem Brett suchen, die punktreiche Züge ermöglichen (Hotspots); Wörter so anlegen, dass sie mehrere bereits liegende verlängern (Mauerwerke); Bingos suchen (also Züge mit 50 Zusatzpunkten dafür, dass man alle sieben Buchstaben in einem Wort loswird), indem man Vorsilben oder andere häufige Buchstabenkombinationen sucht und die Buchstaben auf der Bank verschiebt, um Assoziationen zu bekommen; Hooks suchen, also Wortverlängerungen wie A-BRATEN oder KAMERA-D; und gezielt Wörter lernen (wenn einem das Spaß macht), insbesondere die kurzen Wörter, diejenigen mit seltenen Buchstaben wie Q und Y und die häufigsten Bingos (hier eine großartige Sammlung wichtigen Scrabble-Vokabulars)
  • Die eigene Punktzahl in den nächsten Zügen maximieren kann man, indem man auf gute Restbänke achtet - also diejenigen Buchstaben aufspart, die in den Folgezügen nützlich sein werden; pauschal gesagt sind das die Buchstaben im Wort INSERAT, die besonders flexibel einsetzbar sind und im Deutschen häufig vorkommen; indem man ganz besonders die beiden Blankosteine, also die Joker, nicht zu leichtfertig einsetzt; umgekehrt sperrige Buchstaben möglichst schnell loswird, insbesondere Q, W, V, Ü, J, C; gute Kombinationen behält (etwa SCH), Vokale und Konsonanten ausbalanciert; Buchstabendopplungen auflöst; lieber zu früh als zu spät Buchstaben tauscht; und Züge spielt, mit denen man sich selbst eine Vorlage für den nächsten Zug hinlegt, sogenannte Setups
  • Die gegnerische Punktzahl einschränken, also defensiv spielen, kann man logischerweise, indem man es vermeidet, punktreiche Stellen zu eröffnen; wenn solche verfügbar sind, sie möglichst selbst besetzt; Bingostellen blockiert oder nicht eröffnet - also keinen Platz für Wörter mit 7-8 Buchstaben bietet; und auf gegnerische Setups (s. o.) reagiert

Soweit zu ganz pauschalen Strategien; dazu kommen noch einige, die nicht spezifisch einer der genannten Kategorien zuzuordnen sind:

  • Buchstaben abstreichen bedeutet, mitzuprotokollieren, welche Buchstaben bereits gespielt wurden und daraus rückzuschließen, welche noch fehlen - am Ende des Spiels ist dann klar, welche Buchstaben auf der gegnerischen Bank sind, und man kann damit prinzipiell genau ausknobeln, welche Züge noch möglich sind
  • Inferenz bedeutet aus einem gegnerischen Zug Rückschlüsse darüber zu ziehen, was für Buchstaben vermutlich auf der gegnerischen Bank sind, und entsprechend unterschiedlich zu reagieren
  • Fischen ist der Versuch, ein bestimmtes Wort zu erwischen, an dem man aktuell nah dran ist - oft keine gute Idee, aber manchmal die letzte Gewinnmöglichkeit
  • Turnover bezeichnet die Anzahl der Buchstaben, die man in einem Zug spielt - je nach Situation kann es sinnvoller sein, ein möglichst kurzes oder ein möglichst langes Wort zu spielen
  • Phoneys sind Wörter, die nach den jeweiligen Regeln nicht gültig sind - in Turnierspielen kommt damit als mögliche Strategie hinzu, Wörter zu legen, bei denen man unsicher ist, oder sogar zu bluffen und ein Wort zu spielen, bei dem man weiß, dass es nicht zulässig ist, in der Hoffnung, dass es nicht beanstandet wird
  • Im Endspiel und kurz davor - also wenn nur noch wenige Buchstaben übrig sind - kommen noch einmal eigene Strategien ins Spiel, wie die Idee, jemanden auf einem nicht mehr spielbaren Buchstaben "sitzen zu lassen" (ein stick), zu passen - also ohne Zug und ohne Tauschen auszusetzen - oder bewusst einen Bingo nicht zu spielen, wenn das dazu führen würde, dass man von einem Antwortzug wahrscheinlich noch überholt werden würde

Und auch mit dieser Aufzählung habe ich nicht das Gefühl, dass ich alles genannt hätte. Es ist ein sehr weites Feld und ein Spiel, bei dem man nie auslernt. Ich müsste ein Buch schreiben, wenn ich das alles im Detail ausführen wollte - oder eben YouTube-Videos machen.